Friday, April 19, 2013

Umziehen

Es ist offiziell. Ich werde in diesem Monat umziehen. Raus aus dem teuren Apartment mit Pool, Gym, Hot Tub, die ich so gut wie nie benutze, dem unschlagbaren Sonnenaufgang, den ich von meinem Wohnzimmer und Balkon aus sehen kann. Groß ist es auch. Relativ. Nicht relativ zu meiner alten Wohnung in Hamburg aber relativ zu der durchschnittlichen Wohnung in San Francisco. Die Wohnung, die nicht von einem Internetmillionär bewohnt wird. Ob man es glaubt oder nicht, es gibt auch Menschen in San Francisco und Umgebung, die nicht mit 18 Jahren ihr Start Up für ein paar Millionen Dollar verkauft haben.

Ich hatte schon eine Weile überlegt, auszuziehen. Die Miete war zu Beginn schon ziemlich hoch und da  hier nur alte Wohnungen mietpreisgebunden sind, habe ich jedes Jahr mit einer Erhöhung zu rechnen. Ein Blick auf den Mietspiegel zeigte mir, dass ich derzeit unterm Durchschnitt meines Stadtteils liege und somit wieder eine Erhöhung zu erwarten habe. Aber wie immer in meinem Leben vertraute ich darauf, dass etwas geschehen würde, was zur Lösung dieser Situation beitragen würde. Und das war auch der Fall. Zunächst einmal wurde bei der Arbeit mal wieder mein Team umstrukturiert. Zum dritten Mal innerhalb eines Dreiviertel Jahres. Was mich darüber nachdenken liess, mir einen anderen Job zu suchen. Gegebenenfalls sogar einen neuen Arbeitgeber. Praktischerweise habe ich vor kurzem meine Green Card bekommen, was bedeutete, daß ich nicht mehr an meinen Arbeitgeber gebunden war. Mein bisheriges Visum war an meine Firma gebunden. Somit hätte ich ab Verlassen derselben zwei Wochen Zeit gehabt, mir eine neue Firma zu suchen, die mir ein Visum sponsert. Aber nun muß ich nicht einmal mehr arbeiten. Theoretisch.

Der ganze Tumult und die Frustration bei der Arbeit führte dazu, dass ich spasseshalber einen Freund von mir, der in einer Obdachlosenküche arbeitet fragte, ob ich bei ihm als Küchenhilfe anfangen könnte. Gleichzeitig müßte ich dann aber auch bei ihm einziehen, da mich dieser Job zwar glücklicher machen würde als mein derzeitiger, aber mich definitiv nicht mit ausreichend Geld ausstatten würde, um in meiner Wohnung bleiben zu können. Es stellte sich heraus, daß zwar ein Zimmer in seinem Haus frei war, für etwa ein Viertel von dem was ich zur Zeit bezahle, daß dieses Zimmer aber sehr klein und sehr dunkel war. Dennoch hatte ich den richtigen gefragt. Sein Freund, der auch ein Freund und Kollege von mir ist, riet mir von eben dieser Dunkelkammer ab. Am Tag darauf leitete er mir ganz aufgeregt eine E-Mail eines seiner Freunde weiter, der einen Mitbewohner für seine Wohnung suchte. Ein günstiges Zimmer in einer recht großen, wunderschönen Wohnung mit Garten, Freisitz und Katze.

Ich schrieb ihm sogleich eine E-Mail und wir vereinbarten für den darauffolgenden Sonntag einen Besichtigungstermin. Pünktlich um elf Uhr stand ich vor der Tür. Die öffnete sich und im Türrahmen stand: mein Exfreund! Nun ja, nicht derselbe aber eine fast exakte Kopie. Gesicht, Augen, Statue, Größe, wie ein Zwilling. Nur jünger und schwul. Nachdem ich mich vom ersten Schock erholt hatte, schaute ich mich in der Wohnung um. Abgesehen von oder auch gerade wegen seines Aussehens, Barry war mir sofort sympathisch. Unaufdringlich, ruhig, und vor allem von Anfang an gleich sehr offen und gastfreundlich. Nun, die Wohnung insgesamt ist größer als meine derzeitige, die Küche der Hammer, es gibt einen großen Garten und Freisitz. In der Garage ist ausreichend Platz, um einen Teil meiner Möbel, mein Wakeboard, Fahrrad und sogar mein Motorrad unterzubringen. Mein Zimmer ist auch recht groß. Allerdings wurde mir ein wenig mulmig als ich den Kleiderschrank sah. Der erinnerte mich stark an den ersten Kleiderschrank, den ich als Kind hatte. Heißt: sehr klein. Von meiner Hamburger Wohnung zu der in San Francisco hatte sich mein Schrank bereits halbiert. Meine Mutter und Schwägerin haben sich sehr darüber gefreut, da ich mit ein paar Säcken aussortierter Klamotten auftauchte. Aber auch ich finde es doch immer sehr schön, hin und wieder mal eine bekannte Hose, Bluse oder auch ein T-Shirt wiederzutreffen.

Ich beschloß, den kleinen Schrank eher als kreative Herausforderung zu betrachten und konzentrierte mich auf die schönen Seiten der Wohnung. Ich könnte zum Beispiel ein Schuhmobile basteln, lediglich Unterwäsche in meinem Zimmer verwahren und zum vollständigen Anziehen in den Flur oder Keller gehen. Dazu sei zu sagen, daß im Flur kein Platz ist und der "Keller" nicht wie in Deutschland üblich über eine Treppe im Inneren des Hauses zu erreichen ist, sondern man eine Treppe im Freien nehmen muß. Somit stelle ich mir das in Unterwäsche zum Schrank mit den Hosen und Shirts zu laufen, im Winter doch eher etwas unangenehm vor. Selbst in Kalifornien.

Dennoch, üblicherweise sammelt sich ja in den Jahren, die man am selben Ort verbringt immer eine Unmenge von Müll an. Und je mehr Platz man hat, vor allem, wenn es einen Keller oder Dachboden, oder, Gott bewahre, beides gibt, desto mehr Müll wird es. Alles was eigentlich weggegeben, verkauft oder weggeworfen gehört, geht auf den Dachboden. Man weiß ja nie. Bis zu dem Tag, an dem man dann auszieht. Und sich nach ca. 20 Mal Treppe rauf und runter rennen wünscht, man hätte doch jedes Teil zum erstmöglichen Zeitpunkt weggeworfen.

Deshalb denke ich, daß meine derzeitige, wenn auch nicht ganz freiwillige Strategie eindeutig besser ist. Weniger Platz im neuen Heim. Dann sammelt sich auch weniger an und man überlegt ganz genau, was man behalten will und was definitiv wegkann.

Huch, ich bin alt!

Jeder von uns kennt das, "alte" Leute (heißt, alles was ca. 3 Jahre älter ist als wir, oder zumindest so aussieht), reden ständig über ihre Zipperlein, Gebrechen, Gliederschmerzen, Rheuma, usw. Du hörst mehr oder weniger geduldig zu und versuchst, Dich davon abzuhalten, gute Tips zu geben oder mit den Augen zu rollen. Doch wie bei fast allem, das wir als junge Menschen unverständlich und leicht oder extrem genervt von "alten" Leuten zu hören bekommen, ist es auch hier so, daß wir schließlich selbst irgendwann einmal anfangen, die selben Dinge zu beklagen. "Ich hab Rücken.", "Ich hab Kreislauf.", "Mein Cholesterin.", "Ich kann tun, was ich will, ich nehm nicht ab.", usw. Was umso erstaunlicher ist, da wir uns doch unsere gesamte Jugend und Kindheit darauf hätten vorbereiten können, wo uns doch unsere Eltern, Großeltern, und all die anderen "alten" Leute geduldig und ausreichend darauf vorbereitet haben.

Dennoch, nach jahrelangem Extremsporteln, mehr oder weniger heftigem Alkohol- und Drogenkonsums, Tonnen von Schokoladentafeln und -riegeln, Fast- und Junkfoods, durchgefeierten Nächten, tagtäglichem starren auf winzige Zahlen oder Buchstaben auf unserem Monitor, Rumlümmeln in ergonomisch zweifelhaften Bürostühlen und Ikeasofas, wundern wir uns, daß uns mit Mitte oder Ende Dreißig plötzlich der untere Rücken wehtut, wir Kopfschmerzen beim Lesen haben, nach einer Stunde Joggen das Treppensteigen gleißende Schmerzen in den Knien verursacht, unsere Hände und Arme anfangen zu kribbeln, wir nachts aufwachen, da irgendein Körperteil erst nach Mitternacht endlich genug zu Ruhe kommen konnte, um festzustellen, "Verdammt, ich bin verspannt, gestaucht, oder was auch immer, ich tue ja total weh! Auuuuaaaa! Mir doch egal, ob die davon jetzt aufwacht."

Bis Dir dann endlich bewußt wird. "Ich bin alt." Nun ja, nicht wirklich "alt". Aber alt genug, um festzustellen, daß der Körper ein Haltbarkeitsdatum hat und jahrelanger Ge- und Mißbrauch nicht spurlos an ihm vorübergegangen sind. Und dann geht es ab ins Fitnessstudio, es wird diätet, auf Kohlehydrate verzichtet, gedehnt, gejogat, meditiert, gemidlifekrisist, operiert, usw. Wo es doch einfacher gewesen wäre, schon als Teenager auf seine Eltern zu hören. Mehr Schlaf, mehr Brokkoli, weniger Schokolade und Chips, keine Zigaretten, gerade sitzen, Musik leiser stellen, und was nicht alles sonst. Aber zu dem Zeitpunkt hatte man schon, nach dem ewigen Gejammer der Eltern über deren Zipperlein, die Ohren auf Durchzug gestellt und hörte die guten Ratschläge nicht mehr.

Ich kann von Glück sagen, daß meine "Zipperlein" bisher nur muskulärer Natur sind. Das Taubheitsgefühl in meinem linken Arm und die extremen Schmerzen in der linken Schulter resultierten aus jahrelanger Anspannung aufgrund einer Zahnfehlstellung. Dank einer Zahnschiene, die mich allerdings mehrere tausend Euro gekostet hatte, war das innerhalb weniger Wochen behoben. Nach jahrelangen Schmerzen, die mich schließlich nicht einmal mehr Fahrradfahren ließen, zahllosen Arztbesuchen, EEGs und MRTs, ein paar Tagen Angst, einen Halswirbelsäulenbandscheibenschaden zu haben, netten Ärzten, die mich auf 20 bis 30 Jahre alt schätzten, fand ich schließlich die richtigen Ärzte, die mir zwar das Geld bündelweise aus der Tasche zogen, aber mir meinen Arm schmerzfrei und funktionstüchtig zurückgaben.

Meine Knieschmerzen, die die Krankengymnastin damit beheben konnte, daß sie mir noch mehr Muskeln an den Oberschenkeln bescherte. Und seitdem, sobald meine Knie nach ein wenig Joggen wehtaten, lief ich einfach weiter, bis es irgendwann aufhörte.

Gerade hab ich wieder einmal Knieschmerzen. Seit meinem Halbmarathon, den ich ja unbedingt unter zwei Stunden beenden mußte. Aber das resultiert lediglich aus zu wenig Dehnen nach dem Laufen. Ich hab mir nun eine Schaumgummirolle besorgt, die man zu Selbstmassage verwenden kann. Schön die Aussenseite des Beins auf die Rolle legen und mit dem ganzen Körper hin und her rollen. Das sind Schmerzen! Danach noch schön für ca. 10 Minuten in eine Badewanne mit Eiswasser und alles tut etwas weniger weh. Auch die tagtägliche Ibuprofenkapsel hilft. Allerdings immer weniger mit der Zeit. Dann werden es auch mal zwei.

Und natürlich, das Allheilmittel: Alkohol :-).

Wednesday, April 17, 2013

Mein Bruder


Langsam aber sicher vervollständigt sich die Familienserie. Nach meiner Mutter, die immer den richtigen Spruch zur richtigen Zeit parat hatte ("richtig" ist hier natürlich eine Frage der Auslegung) und meinem Vater, dem unerschöpflichen Quell an Wissen und handwerklichem und technischen Geschick (auch wenn ich ihn dann sicherlich mehr als einmal zum Teufel wünschen würde, fände ich es super, wenn mein Vater in meinem Team arbeiten könnte!), geht es nun um meinen Bruder. 

Was ein langer Satz!

Mein Bruder. Ich muß ehrlich gestehen, daß er und ich gar keine sehr enge Beziehung zueinander haben. Nicht mehr. Und das hat, zumindest auf meiner Seite, damit zu tun worüber ich in meinem letzten Blogeintrag geschrieben habe. Seinem Unfall.

Aber um am Anfang anzufangen. Mein Bruder war eines der hübschesten Kinder, die ich jemals gesehen habe. Blaue Augen, hellblonde Haare, ein strahlendes Lächeln, eine Haut, zart wie ein Babypopo (wie ihr sicherlich ahnen werdet, stammt dieser Ausdruck von meiner Mutter). Lieb, aufmerksam, der Liebling aller Großeltern, Nachbarn, seiner Eltern, des ganzen Dorfes und seiner Schwester! Mein liebstes Foto zeigt uns beide als Kleinkinder in einer festen Umarmung. Ich trage ein rotes Kopftuch und wir beide haben, glaube ich, Trägerhosenjeans an. Und beide strahlen über beide Ohren. Kunststück, wir hatten ja auch beide unglaubliches Glück mit unseren Geschwistern.

Wenn ich "Geschwister" sage, meine ich das auch so. Es gab noch einen zweiten Bruder. Ein wenig älter als mein Bruder. Alexander. Alexander wurde ganze 40 Minuten alt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in meinen Eltern, was überhaupt in Eltern vorgehen muß, die ihr Neugeborenes Kind in den Armen halten und es nach nicht einmal einer Stunde schon wieder verlieren. Aber darauf möchte ich jetzt nicht weiter eingehen. Ich wollte nur anmerken, daß ich zwei Brüder hatte. Nur leider durfte ich den zweiten niemals kennenlernen.

Lego. Feuerwehrautos. Der Spatz. Das wären die drei Dinge, die mir sofort in den Kopf kämen, wenn mich jemand nach drei Dingen fragen würde, die ich mit meinem Bruder assoziiere. 

Lego. Ich war als kleines Kind fest davon überzeugt, daß mein Bruder Ingenieur, Architekt, Städteplaner oder einfach nur ein wahnsinnig erfolgreicher Künstler werden würde. In den 70ern und frühen 80ern gab es noch nicht die völlig abgefahrenen Lego Bausätze. Wir hatten jede Menge Lego (an dieser Stelle noch einmal danke an meine Eltern für die besten Spielzeuge der Wellt, Lego und die selbstgemachten Bauklötze. Diese kombiniert mit Kreide zum "Häuser und Tennisplätze auf die Straße malen" sind bis heute meine liebsten Kindheitserinnerungen). Aber nachdem wir, naja, eher mein Bruder, ein oder zweimal das Haus, Auto, die Feuerwehrzentrale nach Anleitung gebaut hatten, brauchten wir etwas, das eine größere Herausforderung darstellte. Somit verbrachten wir Stunden und Tage damit, ganze Städte zu bauen, kurz zu spielen, sie abzureißen und wieder neu aufzubauen (irgendwie erinnert mich das an meinen derzeitigen Job…). Vor kurzem habe ich mit meinen Nichten ein paar Sachen aus Lego gebaut. Als ich in den altbekannten Kisten nach roten Steinen gesucht habe, merkte ich, wie natürlich die Handbewegung funktionierte. Als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Wie Fahrradfahren. Lego. Ich hoffe, daß es unzähligen Kindern (und jetzt Erwachsenen) wie mir geht. Allein das Wort macht mich glücklich und bringt ein Lächeln auf mein Gesicht. 

Aber um auf meinen Bruder zurückzukommen. Er brauchte keine Anleitung. Er hatte alles in seinem Kopf. Er wußte, was er bauen wollte. Ich sehe noch heute seinen hochkonzentrierten Gesichtsausdruck vor mir, mit dem er Stein für Stein aus der Kiste holte und Stein für Stein vor meinen staunenden Augen ein Haus, Raumschiff, Fahrzeug, oder sonstiges herzauberte. Kreativität, Leidenschaft, Hingabe, und Geduld. Auch wenn es Stunden oder Tage dauerte, am Ende entstand genau das vor unseren Augen, was er sich vorgestellt hatte. Und ich war jedes mal verzaubert und voller Bewunderung für meinen Bruder. Das Genie. Den Künstler!

Feuerwehrautos. Es gab eine Zeit, die gibt es sicherlich im Leben eines jeden Jungens, in dem mein Bruder Interesse an Modelleisenbahnen zu bekunden begann. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube das passierte, nachdem wir die beeindruckende Anlage des Sohnes oder Ehemannes einer Bekannten meiner Mutter bestaunen und bedienen durften. Das übliche, Hügel, Häuser, Autos und jede Menge Schienen und Züge auf einer großen Sperrholzplatte im Keller. Eigentlich für die Kinder aber meistens frequentiert von Papa. Nun, mein Bruder startete ein paar Versuche mit Zügen. Dann stellte er fest, daß ihn die Modellautos viel mehr faszinierten, bis er schließlich, nach einer weiteren kurzen Umleitung über Polizeiautos, bei den Feuerwehrautos hängenblieb. Ich hab nie gezählt und kann mich nicht genau erinnern. Aber ich es müssen an die oder über Tausend gewesen sein. Sie sind immer noch alle in seinem alten Zimmer… Er kannte die genaue Fahrzeugbezeichung (TLF 345, oder wie auch immer). Und fuhr zu den entlegensten Modellfahrzeugläden, um auch noch das letzte, ihm fehlende Modell zu erstehen oder sich einfach nur mit anderen Fans auszutauschen. Und, was ich besonders unglaublich fand wenn man die Dimensionen von Modellautos in Betracht zieht, er BAUTE sie einfach selbst, da es bestimmte Modell noch nicht, nicht mehr oder gar nicht zu kaufen gab. Da saß er einfach mal stunden- oder tagelang an seinem Ikea Schreibtisch zersägte Modellautos und Plastik, klebte sie wieder zusammen, bemalte sie und, voila, komplettierte seine Sammlung mit einem Unikat. Ich kann es bis heute noch nicht glauben, wie talentiert und hingebungsvoll mein Bruder sein konnte! Er war etwas weniger hingebungsvoll, wenn es um Lateinvokabeln ging. Das hatten wir allerdings gemeinsam. Es MUSS also an der Lehrerin gelegen haben, die uns beiden das Leben zu Hölle gemacht hat!

"Der Spatz". Wie in einem früheren Blogeintrag erwähnt, sind meine Eltern, mein Bruder und ich jahrelang mehrfach im Jahr mit unseren diversen VW Bus Modellen in den Campingurlaub gefahren. Damals hatten wir noch Kassetten. Und der Bus hatte einen Kassettenrecorder. Neben Roger Whittaker (danke, Mutti, als vorpubertierendes Mädchen mit einer unglaublich bildhaften Fantasie mag man nichts lieber hören als die sehr eindeutigen Liebesschnulzen eines aus meiner damaligen Sicht dicken, alten und unattraktiven Engländers :-) durften mein Bruder und ich auch unsere Lieblingskassetten abspielen. Kinderlieder von Christiane und Frederik. Bis heute hab ich "Die Rübe", "Ferdinand und sein Traktor", "Der Spatz" ("Ich bin kein Spatz, ich bin ein Sperling, pöbeln Sie mich hier nicht an. Ich mache hier nur Rast und fliege dann zu der Abfalltonne von nem Feineleuterestaurant" - mit spitzem, hamburgischem "st") und natürlich: "Das Schweinelied" immer noch im Ohr.

Letzteres Lied war eine niedliche Parabel darüber, weshalb es ungut ist, zu schnell erwachsen zu werden. Eine Sau hatte zehn rosa Ferkel. Die grunzten noch nicht so wie ihre Mutter, sondern quiekten ganz fröhlich vor sich hin. Eines der Ferkel meinte jedoch, daß es viel cooler sei, wie die Mutter zu grunzen, anstatt so kindisch zu quieken. Somit übten sie alle ganz fleißig das Grunzen. Und schließlich waren sie erfolgreich. Keiner quiekte mehr, alle grunzten nur noch. Der Bauer war erstaunt, daß die Ferkel so schnell erwachsen geworden waren. Und schließlich, als der Metzger Meier kam, wünschten alle Ferkel, dass sie sich mit dem Grunzenlernen doch nur noch etwas mehr Zeit gelassen hätten.

Schnell erwachsen wurden mein Bruder und ich dann auch. Am 6. Dezember 1985. Der Tag seines Unfalls. Der Tag, der unser aller Leben verändern sollte. 

Auch wenn niemand außer sehr nahestehende Personen ihm heute noch was anmerken, hat diese Ereignis einen tiefen Einschnitt hinterlassen. Für ihn am allermeisten. Auch wenn ich mich damals oft an seine Stelle gewünscht habe, da ich immer besser darin war, Schmerzen zu ertragen und es mir immer doppelt so weh tat, nahestehende Personen leiden zu sehen, möchte ich mir nicht vorstellen, wie es für ihn gewesen sein muß. Mit dreizehn Jahren, wo das Leben gerade richtig anfängt, ein Jahr lang in Krankenhäusern und Rehabilitationszentren zu verbringen. Wo er doch sein Leben geniessen sollte. Mit Freunden, seiner Familie und seinen Feuerwehrautos.

Heute lebt er ein glückliches Leben mit seiner Frau und zwei Töchtern, die lebhafter nicht sein könnten. Jedesmal, wenn ich ihn mit den beiden sehe, bin ich unendlich dankbar dafür, daß er leben durfte.

Monday, April 08, 2013

Was uns antreibt

Ich sitze in meiner Wohnung auf dem Fußboden, dort wo bis gestern noch mein Sofa stand. Ich werde in ein paar Wochen ausziehen und mein geliebtes Sofa paßt zum einen nicht in die neue Wohnung und zum anderen wäre es innerhalb kurzer Zeit völlig von Boris, der Katze zerkratzt.

Vor einer Stunde bin ich aus San Luis Obispo zurückgekommen, wo ich gestern zum ersten Mal an einem ernsthaften Sportwettbewerb teilgenommen habe. Ich bin einen halben Marathon gerannt. Warum? Vor ein paar Monaten war ich mit meiner Freundin und Kollegin Tracey auf dem Weg zu unserer wöchentlichen gemeinsamen Fitnessstunde. Zu der hatte sie mich ein paar Monate vorher zum ersten Mal mitgenommen. "Pain Class" hatte sie sie genannt. Und sie hatte recht. 60 Minuten schwitzen und Schmerzen ertragen. Aber, nach knapp drei Monaten schauten meine Beine aus, als hätte ich sie gerade neu bekommen. Und meine Arme waren stark genug, um mich ohne großen Muskelkater durch einen Sommer auf dem Wakeboard zu kriegen. Ich hatte Tracey vorher noch nie so emotional und traurig erlebt wie zu dieser Zeit. Sie ist der Mittelpunkt jeder Party, so warm, herzlich, verrückt, lustig und völlig politisch unkorrekt. Eine der wenigen Kolleginnen und Amerikaner in deren Gegenwart ich mich nicht zusammenreissen muß, wenn mir ein Spruch oder Witz in den Kopf kommt.

Kurz zuvor war ein guter Freund von Ihr, um genauer zu sein, ihre erste große Liebe Greg, an Lymphdrüsenkrebs gestorben. Eigentlich sah es ganz gut für ihn aus, bis sein Immunsystem attackiert wurde und er innerhalb weniger Tage starb. Sie war am Boden zerstört und es verging kaum ein Moment in dem sie keine Tränen in den Augen hatte. Ich brachte sie dazu, mir von ihm zu erzählen und erfuhr, daß er wie kaum ein anderer das Leben geliebt und genossen hatte. Und viele andere mit dieser Lebenslust angesteckt hatte. Das weckte schmerzhafte Erinnerungen in mir.

Jedenfalls erzählte Tracey, daß sie sich für einen Marathon angemeldet hatte, in San Luis Obispo, der Stadt in der Greg gelebt und sie ihn kennengelernt hatte. Freund von ihm und ihr, die auch dort lebten, wollten an dem 5km Lauf am Tag vor dem Marathon teilnehmen, um im Namen von Greg Geld zu sammeln und es seinem alten Arbeitgeber, einer Schule, für ein Stipendium in Gregs Namen zur Verfügung zu stellen. Tracey wollte auch Spenden sammeln. Zusammen mit einer Organisation, die sich "Team in Training" nennt. Die verknüpfen Spenden sammeln für den Kampf gegen Blutkrebs mit Vorbereitung für Sportereignisse. Recht erfolgreich.

Ich hatte einmal versucht, an einem Marathon teilzunehmen, mich aber während der Vorbereitung verletzt. Ironischerweise beim Badmintonspielen. Danach konnte ich nicht länger als eine Stunde am Stück joggen, ohne daß mein linker Fußrücken schmerzte. Ich joggte zwar immer noch regelmäßig und war auch dank unserer "Pain Class" ganz gut in Form aber ich dachte nicht, daß ich je an einem Laufwettbewerb teilnehmen würde. Aber je länger ich Tracey zuhörte, desto mehr dachte ich, daß ich etwas für sie tun wollte. Alles, was zu tun in meiner Macht stand, damit sie nur nicht mehr so traurig war. "Ich melde mich auch an." Hörte ich mich sagen. Allerdings entschloß ich mich für den Halbmarathon. Gesagt getan, am nächsten Tag meldete ich mich an und mußte nun 2.400 Dollar an Spenden sammeln, das Minimum, um mit der Gruppe von Team in Training, also mit Tracey, trainieren zu können.

Ein paar Tage später schrieb ich eine E-Mail an Freunde und Kollegen, um sie um Spenden zu bitten. Es brauchte eine Weile bis ich sie tatsächlich abschickte. Für einige Zeit überlegte ich, den Betrag einfach selbst zu zahlen. Ich halte nicht viel von dem organisierten Spendensammeln, Tränendrüsendrücken, um seinen Freunden und Kollegen noch einmal ein paar Euro oder Dollar aus der Tasche zu holen. Ein großer Teil davon geht ohnehin in die Verwaltung und an Pharmakonzerne. Dachte ich.

Innerhalb kürzester Zeit nachdem ich die E-Mail abgeschickt hatte, hatte ich schon fast 500 Dollar zusammen. Und da wurde mir klar. Verdammt, ich muß wirklich laufen! Ich hatte noch nie mehr als 15km am Stück geschafft und da ich mich nur für einen halben Marathon angemeldet hatte, wollte ich auch eine halbwegs vernünftige Zeit laufen. Das hieß: Trainieren. Ein Mal die Woche ging es ins Leichtathletikstadium in der Stanford Universität. Sprints, Intervalle, Treppen rauf und runter. Ein weiterer Lauf in der Woche, ca. eine Stunde und dann ein langer und immer länger werdender Lauf am Wochenende. Eigentlich samstagmorgens. Aber bis auf ein Mal hab ich es nie so früh zum offiziellen Trainingslauf geschafft. Und dieses eine Mal war ich am Tag zuvor aus Europa zurückgekommen und bin bereits um ein Uhr morgens aufgewacht. Somit zählt das nicht wirklich, glaub ich...

Ich lief Runde um Runde ums Stadium, rauf auf so ziemlich jeden Hügel in San Francisco, aß so viel Nudeln und Schokolade wie noch nie zuvor. Lief weiter und schneller als je zuvor. Vergaß, wie sich Beine ohne Muskelkater anfühlten. Nahm sogar ein oder zwei Eisbäder. Brrrr! Ich versuchte, mich mit der Mission von Team in Training anzufreunden und einen persönlichen Grund zu finden, um mich anzutreiben. Und ich fand ihn.

Als ich zehn Jahre alt war, erfuhr ich wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen verlieren zu können. Meine Mutter und ich warteten mit dem Mittagessen auf meinen Bruder und dessen Freund, die auf dem Heimweg von der Schule waren. Da klingelte das Telefon. Jemand sagte meiner Mutter, sie sollte zum Bahnhof kommen, da ihr Sohn einen "Unfall" hatte. Sie ging davon aus, daß er gestürzt war und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Es war um einiges ernster als das.

Zu dem Zeitpunkt befand er sich im Helikopter auf dem Weg zur Universitätsklinik in Göttingen. Er wollte die Hauptstraße überqueren. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Haus meiner Eltern mußten wir über die Hauptstraße. Sie war einigermaßen gut einzusehen. Allerdings gab es weder eine 30iger Zone noch Zebrastreifen oder gar eine Fußgängerampel. Mein Bruder war immer sehr aufmerksam und vorsichtig. Und dennoch, als er über die Straße gehen wollte, kam ein Auto vorbeigefahren, zu schnell. Der Rückspiegel auf der Beifahrerseite verfing sich im Schultergurt des Schulranzens meines Bruders (an dieser Stelle "Hut ab" vor dem guten alten Scout Ranzen) und beschleunigte seine 35 Kilo von Null auf 60km/h in unter einer Sekunde. Bis er wieder auf dem Boden aufschlug.

Schädelbasisbruch. Hirntrauma. Zahllose gebrochene Knochen. Zuviel Schaden für einen so jungen und leichten Körper. Wenige Sekunden richteten nie wieder rückgängig zu machenden Schaden an. Und dennoch, auch wenn es in diesem Zusammenhang nicht so klingt, er hatte Glück. Ein Arzt war in der Nähe, der ihm sofort eine Infusion verpassen konnte. Ein Krankenwagen war nur wenige Minuten entfernt. Und der Helikopter kam kurz danach. Er wurde in ein künstliches Koma versetzt und es wurde alles für ihn getan, was möglich war.

Ich kann mich nicht genau an alle Einzelheiten erinnern. Ich höre meine Eltern sagen "Im schlimmsten Fall bleibt uns immer noch Eva." (sie bestreiten das bis heute und ich bin ihnen dankbar dafür). Ich erinnere mich an zahllose Nachmittag im Vorzimmer der Neuropädiatrie, da ich zu jung war, um meinem Bruder auf seiner Station zu besuchen. Überglücklich darüber zu sein, wenn ich ihn mal für ein paar Minuten sehen durfte, dank einer Krankenschwester, die er mit seinem Charme alle um den Finger wickelte und die dafür ihren Job riskierte. An seinen kahlen Kopf, dank der Schädeloperation. Daran, daß seine ersten Worte nachdem sie ihn aus dem künstlichen Koma holten, auf Englisch waren. Daran, daß ich die einzige in meiner Klasse war, die "Neuropädiatrie" und "Rehabilitationszentrum" buchstabieren konnte und auch genau wußte, was sie bedeuteten. Daran, daß ich stark sein mußte, weil meine Eltern so viele Sorgen mit meinem Bruder hatten. Und auch daran, daß sie alles taten, damit es mir gut ging und ich mich nicht vernachlässigt fühlte.

Mein Bruder brauchte ein Jahr, um wieder zu Schule gehen zu können. Begegnet man ihm heute, merkt man ihm nicht an, daß er offiziell schwerbehindert ist. Er ist verheiratet und hat zwei wunderbare Töchter. Er ist glücklich und führt ein glückliches Leben. Er durfte leben. Er sollte leben.

Und ich hatte meinen Grund, mich Kilometer um Kilometer die Laufstrecke entlang zu treiben. Weiterzulaufen, wenn es sich anfühlte, als ob es nicht mehr ging. Schneller zu werden, wenn ich eigentlich stehen bleiben wollte. Kein kleines Kind sollte sich solche Sorgen machen müssen. Sorgen, daß sein Bruder oder seine Schwester sterben werden. Was mit seinen Eltern passieren würde, wenn das geschehen sollte. Kein Kind sollte sich den Kopf zerbrechen müssen darüber, wie es seinen Eltern helfen könnte, was es für seinen Bruder oder seine Schwester tun könnte, damit sie wieder gesund werden.

Und so tat ich, was ich tun mußte. Nachdem ich den halben Marathon hinter mich gebracht hatte. Unter  zwei Stunden, wie angestrebt. Meldete ich mich direkt für ein weiteres Rennen an. Dieses Mal für einen richtige Marathon. All das dafür, damit "Ihr Kind hatte einen Unfall" wirklich nur einen Kratzer oder aufgeschlagenes Knie bedeutet.








Friday, April 05, 2013

Und wenn sie nicht gestorben ist...

Ich hab in der letzten Zeit häufiger über Happy Ends nachgedacht. In Büchern, Filmen und im richtigen Leben. Es scheint, als ob ein Ende dann glücklich ist, wenn die beiden Hauptfiguren endlich zueinanderfinden. Nach langem Hin und Her, Verwirrungen, Missverständnissen, Dramen, Tränen, Abenteuern, Lügen und Bekenntnissen treffen sie sich im Regen, vor dem Altar (entweder gemeinsam oder der eine hält den anderen davon ab, sich mit der zweiten Wahl zu verheiraten), auf der Straße oder einem anderen romantisch-dramatischen Ort, um sich zu versöhnen und den Rest ihres Lebens, oder zumindest den Rest der Geschichte, gemeinsam zu verbringen.

Mal abgesehen davon, daß es im richtigen Leben nicht allzu viele Happy Ends in Beziehungen zu geben scheint, es sei denn, so grausam es klingt, frisch und glücklich Vermählte verunglücken während eines besonders glücklichen Momentes Ihrer Hochzeitsreise. Nun ja, das wäre nur für beide ein glückliches Ende. Oder eher ein Ende während sie noch glücklich waren. Aber dennoch glaube ich, dass es viele glückliche Paare gibt, die noch eine lange Zeit vor sich haben, bis sie ihr Ende erreichen.

Ich finde es auch interessant, daß es unterschiedliche Auffassungen davon gibt, was ein glückliches Ende beinhaltet. In Deutschland enden Märchen mit "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." Eine hübsche Tautologie und kein Wort davon, daß sie glücklich miteinander sind. Geschweige denn, ob sie noch leben oder doch noch draufgegangen sind. Und auch nicht, wie sie denn gestorben sind. Gleichzeitig, nacheinander, schmerzhaft. Genug davon.

In Frankreich ist man ein wenig konkreter. Dort heißt es: "Und sie lebten glücklich und hatten viele Kinder." Nun ja, je mehr Kinder man in Frankreich hat, desto weniger Steuern zahlt man. Definitiv ein Grund, glücklich zu sein. Wobei viele Kinder auch viel Streß, viele schmerzhafte Geburten, Dehnungsstreifen, und qualvolle Jahre nicht enden wollender Pubertäten bedeuten. Allerdings möchte ich an dieser Stelle bemerken, daß es sich immer dann, wenn ich Familien sehe, die besonders entspannt mit ihren, erstaunlich braven Kindern umgehen, um Franzosen handelt. Also scheint doch etwas an dem Satz zu sein.

In den USA ist es einfach: "Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende." Das ist alles, was man wissen muß. Kein Hinweis auf Kinder und darauf, daß die Betreffenden Akteure mittlerweile schon gestorben sein könnte. Allerdings auch die unwahrscheinlichste Variante. Wer ist schon hundert Jahre lang glücklich? Aber dann kommt auch schon die nächste Frage. Was bedeutet eigentlich glücklich sein?

--- Ende --- The End --- Fin ---