Wednesday, April 17, 2013

Mein Bruder


Langsam aber sicher vervollständigt sich die Familienserie. Nach meiner Mutter, die immer den richtigen Spruch zur richtigen Zeit parat hatte ("richtig" ist hier natürlich eine Frage der Auslegung) und meinem Vater, dem unerschöpflichen Quell an Wissen und handwerklichem und technischen Geschick (auch wenn ich ihn dann sicherlich mehr als einmal zum Teufel wünschen würde, fände ich es super, wenn mein Vater in meinem Team arbeiten könnte!), geht es nun um meinen Bruder. 

Was ein langer Satz!

Mein Bruder. Ich muß ehrlich gestehen, daß er und ich gar keine sehr enge Beziehung zueinander haben. Nicht mehr. Und das hat, zumindest auf meiner Seite, damit zu tun worüber ich in meinem letzten Blogeintrag geschrieben habe. Seinem Unfall.

Aber um am Anfang anzufangen. Mein Bruder war eines der hübschesten Kinder, die ich jemals gesehen habe. Blaue Augen, hellblonde Haare, ein strahlendes Lächeln, eine Haut, zart wie ein Babypopo (wie ihr sicherlich ahnen werdet, stammt dieser Ausdruck von meiner Mutter). Lieb, aufmerksam, der Liebling aller Großeltern, Nachbarn, seiner Eltern, des ganzen Dorfes und seiner Schwester! Mein liebstes Foto zeigt uns beide als Kleinkinder in einer festen Umarmung. Ich trage ein rotes Kopftuch und wir beide haben, glaube ich, Trägerhosenjeans an. Und beide strahlen über beide Ohren. Kunststück, wir hatten ja auch beide unglaubliches Glück mit unseren Geschwistern.

Wenn ich "Geschwister" sage, meine ich das auch so. Es gab noch einen zweiten Bruder. Ein wenig älter als mein Bruder. Alexander. Alexander wurde ganze 40 Minuten alt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was in meinen Eltern, was überhaupt in Eltern vorgehen muß, die ihr Neugeborenes Kind in den Armen halten und es nach nicht einmal einer Stunde schon wieder verlieren. Aber darauf möchte ich jetzt nicht weiter eingehen. Ich wollte nur anmerken, daß ich zwei Brüder hatte. Nur leider durfte ich den zweiten niemals kennenlernen.

Lego. Feuerwehrautos. Der Spatz. Das wären die drei Dinge, die mir sofort in den Kopf kämen, wenn mich jemand nach drei Dingen fragen würde, die ich mit meinem Bruder assoziiere. 

Lego. Ich war als kleines Kind fest davon überzeugt, daß mein Bruder Ingenieur, Architekt, Städteplaner oder einfach nur ein wahnsinnig erfolgreicher Künstler werden würde. In den 70ern und frühen 80ern gab es noch nicht die völlig abgefahrenen Lego Bausätze. Wir hatten jede Menge Lego (an dieser Stelle noch einmal danke an meine Eltern für die besten Spielzeuge der Wellt, Lego und die selbstgemachten Bauklötze. Diese kombiniert mit Kreide zum "Häuser und Tennisplätze auf die Straße malen" sind bis heute meine liebsten Kindheitserinnerungen). Aber nachdem wir, naja, eher mein Bruder, ein oder zweimal das Haus, Auto, die Feuerwehrzentrale nach Anleitung gebaut hatten, brauchten wir etwas, das eine größere Herausforderung darstellte. Somit verbrachten wir Stunden und Tage damit, ganze Städte zu bauen, kurz zu spielen, sie abzureißen und wieder neu aufzubauen (irgendwie erinnert mich das an meinen derzeitigen Job…). Vor kurzem habe ich mit meinen Nichten ein paar Sachen aus Lego gebaut. Als ich in den altbekannten Kisten nach roten Steinen gesucht habe, merkte ich, wie natürlich die Handbewegung funktionierte. Als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Wie Fahrradfahren. Lego. Ich hoffe, daß es unzähligen Kindern (und jetzt Erwachsenen) wie mir geht. Allein das Wort macht mich glücklich und bringt ein Lächeln auf mein Gesicht. 

Aber um auf meinen Bruder zurückzukommen. Er brauchte keine Anleitung. Er hatte alles in seinem Kopf. Er wußte, was er bauen wollte. Ich sehe noch heute seinen hochkonzentrierten Gesichtsausdruck vor mir, mit dem er Stein für Stein aus der Kiste holte und Stein für Stein vor meinen staunenden Augen ein Haus, Raumschiff, Fahrzeug, oder sonstiges herzauberte. Kreativität, Leidenschaft, Hingabe, und Geduld. Auch wenn es Stunden oder Tage dauerte, am Ende entstand genau das vor unseren Augen, was er sich vorgestellt hatte. Und ich war jedes mal verzaubert und voller Bewunderung für meinen Bruder. Das Genie. Den Künstler!

Feuerwehrautos. Es gab eine Zeit, die gibt es sicherlich im Leben eines jeden Jungens, in dem mein Bruder Interesse an Modelleisenbahnen zu bekunden begann. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube das passierte, nachdem wir die beeindruckende Anlage des Sohnes oder Ehemannes einer Bekannten meiner Mutter bestaunen und bedienen durften. Das übliche, Hügel, Häuser, Autos und jede Menge Schienen und Züge auf einer großen Sperrholzplatte im Keller. Eigentlich für die Kinder aber meistens frequentiert von Papa. Nun, mein Bruder startete ein paar Versuche mit Zügen. Dann stellte er fest, daß ihn die Modellautos viel mehr faszinierten, bis er schließlich, nach einer weiteren kurzen Umleitung über Polizeiautos, bei den Feuerwehrautos hängenblieb. Ich hab nie gezählt und kann mich nicht genau erinnern. Aber ich es müssen an die oder über Tausend gewesen sein. Sie sind immer noch alle in seinem alten Zimmer… Er kannte die genaue Fahrzeugbezeichung (TLF 345, oder wie auch immer). Und fuhr zu den entlegensten Modellfahrzeugläden, um auch noch das letzte, ihm fehlende Modell zu erstehen oder sich einfach nur mit anderen Fans auszutauschen. Und, was ich besonders unglaublich fand wenn man die Dimensionen von Modellautos in Betracht zieht, er BAUTE sie einfach selbst, da es bestimmte Modell noch nicht, nicht mehr oder gar nicht zu kaufen gab. Da saß er einfach mal stunden- oder tagelang an seinem Ikea Schreibtisch zersägte Modellautos und Plastik, klebte sie wieder zusammen, bemalte sie und, voila, komplettierte seine Sammlung mit einem Unikat. Ich kann es bis heute noch nicht glauben, wie talentiert und hingebungsvoll mein Bruder sein konnte! Er war etwas weniger hingebungsvoll, wenn es um Lateinvokabeln ging. Das hatten wir allerdings gemeinsam. Es MUSS also an der Lehrerin gelegen haben, die uns beiden das Leben zu Hölle gemacht hat!

"Der Spatz". Wie in einem früheren Blogeintrag erwähnt, sind meine Eltern, mein Bruder und ich jahrelang mehrfach im Jahr mit unseren diversen VW Bus Modellen in den Campingurlaub gefahren. Damals hatten wir noch Kassetten. Und der Bus hatte einen Kassettenrecorder. Neben Roger Whittaker (danke, Mutti, als vorpubertierendes Mädchen mit einer unglaublich bildhaften Fantasie mag man nichts lieber hören als die sehr eindeutigen Liebesschnulzen eines aus meiner damaligen Sicht dicken, alten und unattraktiven Engländers :-) durften mein Bruder und ich auch unsere Lieblingskassetten abspielen. Kinderlieder von Christiane und Frederik. Bis heute hab ich "Die Rübe", "Ferdinand und sein Traktor", "Der Spatz" ("Ich bin kein Spatz, ich bin ein Sperling, pöbeln Sie mich hier nicht an. Ich mache hier nur Rast und fliege dann zu der Abfalltonne von nem Feineleuterestaurant" - mit spitzem, hamburgischem "st") und natürlich: "Das Schweinelied" immer noch im Ohr.

Letzteres Lied war eine niedliche Parabel darüber, weshalb es ungut ist, zu schnell erwachsen zu werden. Eine Sau hatte zehn rosa Ferkel. Die grunzten noch nicht so wie ihre Mutter, sondern quiekten ganz fröhlich vor sich hin. Eines der Ferkel meinte jedoch, daß es viel cooler sei, wie die Mutter zu grunzen, anstatt so kindisch zu quieken. Somit übten sie alle ganz fleißig das Grunzen. Und schließlich waren sie erfolgreich. Keiner quiekte mehr, alle grunzten nur noch. Der Bauer war erstaunt, daß die Ferkel so schnell erwachsen geworden waren. Und schließlich, als der Metzger Meier kam, wünschten alle Ferkel, dass sie sich mit dem Grunzenlernen doch nur noch etwas mehr Zeit gelassen hätten.

Schnell erwachsen wurden mein Bruder und ich dann auch. Am 6. Dezember 1985. Der Tag seines Unfalls. Der Tag, der unser aller Leben verändern sollte. 

Auch wenn niemand außer sehr nahestehende Personen ihm heute noch was anmerken, hat diese Ereignis einen tiefen Einschnitt hinterlassen. Für ihn am allermeisten. Auch wenn ich mich damals oft an seine Stelle gewünscht habe, da ich immer besser darin war, Schmerzen zu ertragen und es mir immer doppelt so weh tat, nahestehende Personen leiden zu sehen, möchte ich mir nicht vorstellen, wie es für ihn gewesen sein muß. Mit dreizehn Jahren, wo das Leben gerade richtig anfängt, ein Jahr lang in Krankenhäusern und Rehabilitationszentren zu verbringen. Wo er doch sein Leben geniessen sollte. Mit Freunden, seiner Familie und seinen Feuerwehrautos.

Heute lebt er ein glückliches Leben mit seiner Frau und zwei Töchtern, die lebhafter nicht sein könnten. Jedesmal, wenn ich ihn mit den beiden sehe, bin ich unendlich dankbar dafür, daß er leben durfte.

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