Monday, April 08, 2013

Was uns antreibt

Ich sitze in meiner Wohnung auf dem Fußboden, dort wo bis gestern noch mein Sofa stand. Ich werde in ein paar Wochen ausziehen und mein geliebtes Sofa paßt zum einen nicht in die neue Wohnung und zum anderen wäre es innerhalb kurzer Zeit völlig von Boris, der Katze zerkratzt.

Vor einer Stunde bin ich aus San Luis Obispo zurückgekommen, wo ich gestern zum ersten Mal an einem ernsthaften Sportwettbewerb teilgenommen habe. Ich bin einen halben Marathon gerannt. Warum? Vor ein paar Monaten war ich mit meiner Freundin und Kollegin Tracey auf dem Weg zu unserer wöchentlichen gemeinsamen Fitnessstunde. Zu der hatte sie mich ein paar Monate vorher zum ersten Mal mitgenommen. "Pain Class" hatte sie sie genannt. Und sie hatte recht. 60 Minuten schwitzen und Schmerzen ertragen. Aber, nach knapp drei Monaten schauten meine Beine aus, als hätte ich sie gerade neu bekommen. Und meine Arme waren stark genug, um mich ohne großen Muskelkater durch einen Sommer auf dem Wakeboard zu kriegen. Ich hatte Tracey vorher noch nie so emotional und traurig erlebt wie zu dieser Zeit. Sie ist der Mittelpunkt jeder Party, so warm, herzlich, verrückt, lustig und völlig politisch unkorrekt. Eine der wenigen Kolleginnen und Amerikaner in deren Gegenwart ich mich nicht zusammenreissen muß, wenn mir ein Spruch oder Witz in den Kopf kommt.

Kurz zuvor war ein guter Freund von Ihr, um genauer zu sein, ihre erste große Liebe Greg, an Lymphdrüsenkrebs gestorben. Eigentlich sah es ganz gut für ihn aus, bis sein Immunsystem attackiert wurde und er innerhalb weniger Tage starb. Sie war am Boden zerstört und es verging kaum ein Moment in dem sie keine Tränen in den Augen hatte. Ich brachte sie dazu, mir von ihm zu erzählen und erfuhr, daß er wie kaum ein anderer das Leben geliebt und genossen hatte. Und viele andere mit dieser Lebenslust angesteckt hatte. Das weckte schmerzhafte Erinnerungen in mir.

Jedenfalls erzählte Tracey, daß sie sich für einen Marathon angemeldet hatte, in San Luis Obispo, der Stadt in der Greg gelebt und sie ihn kennengelernt hatte. Freund von ihm und ihr, die auch dort lebten, wollten an dem 5km Lauf am Tag vor dem Marathon teilnehmen, um im Namen von Greg Geld zu sammeln und es seinem alten Arbeitgeber, einer Schule, für ein Stipendium in Gregs Namen zur Verfügung zu stellen. Tracey wollte auch Spenden sammeln. Zusammen mit einer Organisation, die sich "Team in Training" nennt. Die verknüpfen Spenden sammeln für den Kampf gegen Blutkrebs mit Vorbereitung für Sportereignisse. Recht erfolgreich.

Ich hatte einmal versucht, an einem Marathon teilzunehmen, mich aber während der Vorbereitung verletzt. Ironischerweise beim Badmintonspielen. Danach konnte ich nicht länger als eine Stunde am Stück joggen, ohne daß mein linker Fußrücken schmerzte. Ich joggte zwar immer noch regelmäßig und war auch dank unserer "Pain Class" ganz gut in Form aber ich dachte nicht, daß ich je an einem Laufwettbewerb teilnehmen würde. Aber je länger ich Tracey zuhörte, desto mehr dachte ich, daß ich etwas für sie tun wollte. Alles, was zu tun in meiner Macht stand, damit sie nur nicht mehr so traurig war. "Ich melde mich auch an." Hörte ich mich sagen. Allerdings entschloß ich mich für den Halbmarathon. Gesagt getan, am nächsten Tag meldete ich mich an und mußte nun 2.400 Dollar an Spenden sammeln, das Minimum, um mit der Gruppe von Team in Training, also mit Tracey, trainieren zu können.

Ein paar Tage später schrieb ich eine E-Mail an Freunde und Kollegen, um sie um Spenden zu bitten. Es brauchte eine Weile bis ich sie tatsächlich abschickte. Für einige Zeit überlegte ich, den Betrag einfach selbst zu zahlen. Ich halte nicht viel von dem organisierten Spendensammeln, Tränendrüsendrücken, um seinen Freunden und Kollegen noch einmal ein paar Euro oder Dollar aus der Tasche zu holen. Ein großer Teil davon geht ohnehin in die Verwaltung und an Pharmakonzerne. Dachte ich.

Innerhalb kürzester Zeit nachdem ich die E-Mail abgeschickt hatte, hatte ich schon fast 500 Dollar zusammen. Und da wurde mir klar. Verdammt, ich muß wirklich laufen! Ich hatte noch nie mehr als 15km am Stück geschafft und da ich mich nur für einen halben Marathon angemeldet hatte, wollte ich auch eine halbwegs vernünftige Zeit laufen. Das hieß: Trainieren. Ein Mal die Woche ging es ins Leichtathletikstadium in der Stanford Universität. Sprints, Intervalle, Treppen rauf und runter. Ein weiterer Lauf in der Woche, ca. eine Stunde und dann ein langer und immer länger werdender Lauf am Wochenende. Eigentlich samstagmorgens. Aber bis auf ein Mal hab ich es nie so früh zum offiziellen Trainingslauf geschafft. Und dieses eine Mal war ich am Tag zuvor aus Europa zurückgekommen und bin bereits um ein Uhr morgens aufgewacht. Somit zählt das nicht wirklich, glaub ich...

Ich lief Runde um Runde ums Stadium, rauf auf so ziemlich jeden Hügel in San Francisco, aß so viel Nudeln und Schokolade wie noch nie zuvor. Lief weiter und schneller als je zuvor. Vergaß, wie sich Beine ohne Muskelkater anfühlten. Nahm sogar ein oder zwei Eisbäder. Brrrr! Ich versuchte, mich mit der Mission von Team in Training anzufreunden und einen persönlichen Grund zu finden, um mich anzutreiben. Und ich fand ihn.

Als ich zehn Jahre alt war, erfuhr ich wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen verlieren zu können. Meine Mutter und ich warteten mit dem Mittagessen auf meinen Bruder und dessen Freund, die auf dem Heimweg von der Schule waren. Da klingelte das Telefon. Jemand sagte meiner Mutter, sie sollte zum Bahnhof kommen, da ihr Sohn einen "Unfall" hatte. Sie ging davon aus, daß er gestürzt war und sich das Knie aufgeschlagen hatte. Es war um einiges ernster als das.

Zu dem Zeitpunkt befand er sich im Helikopter auf dem Weg zur Universitätsklinik in Göttingen. Er wollte die Hauptstraße überqueren. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Haus meiner Eltern mußten wir über die Hauptstraße. Sie war einigermaßen gut einzusehen. Allerdings gab es weder eine 30iger Zone noch Zebrastreifen oder gar eine Fußgängerampel. Mein Bruder war immer sehr aufmerksam und vorsichtig. Und dennoch, als er über die Straße gehen wollte, kam ein Auto vorbeigefahren, zu schnell. Der Rückspiegel auf der Beifahrerseite verfing sich im Schultergurt des Schulranzens meines Bruders (an dieser Stelle "Hut ab" vor dem guten alten Scout Ranzen) und beschleunigte seine 35 Kilo von Null auf 60km/h in unter einer Sekunde. Bis er wieder auf dem Boden aufschlug.

Schädelbasisbruch. Hirntrauma. Zahllose gebrochene Knochen. Zuviel Schaden für einen so jungen und leichten Körper. Wenige Sekunden richteten nie wieder rückgängig zu machenden Schaden an. Und dennoch, auch wenn es in diesem Zusammenhang nicht so klingt, er hatte Glück. Ein Arzt war in der Nähe, der ihm sofort eine Infusion verpassen konnte. Ein Krankenwagen war nur wenige Minuten entfernt. Und der Helikopter kam kurz danach. Er wurde in ein künstliches Koma versetzt und es wurde alles für ihn getan, was möglich war.

Ich kann mich nicht genau an alle Einzelheiten erinnern. Ich höre meine Eltern sagen "Im schlimmsten Fall bleibt uns immer noch Eva." (sie bestreiten das bis heute und ich bin ihnen dankbar dafür). Ich erinnere mich an zahllose Nachmittag im Vorzimmer der Neuropädiatrie, da ich zu jung war, um meinem Bruder auf seiner Station zu besuchen. Überglücklich darüber zu sein, wenn ich ihn mal für ein paar Minuten sehen durfte, dank einer Krankenschwester, die er mit seinem Charme alle um den Finger wickelte und die dafür ihren Job riskierte. An seinen kahlen Kopf, dank der Schädeloperation. Daran, daß seine ersten Worte nachdem sie ihn aus dem künstlichen Koma holten, auf Englisch waren. Daran, daß ich die einzige in meiner Klasse war, die "Neuropädiatrie" und "Rehabilitationszentrum" buchstabieren konnte und auch genau wußte, was sie bedeuteten. Daran, daß ich stark sein mußte, weil meine Eltern so viele Sorgen mit meinem Bruder hatten. Und auch daran, daß sie alles taten, damit es mir gut ging und ich mich nicht vernachlässigt fühlte.

Mein Bruder brauchte ein Jahr, um wieder zu Schule gehen zu können. Begegnet man ihm heute, merkt man ihm nicht an, daß er offiziell schwerbehindert ist. Er ist verheiratet und hat zwei wunderbare Töchter. Er ist glücklich und führt ein glückliches Leben. Er durfte leben. Er sollte leben.

Und ich hatte meinen Grund, mich Kilometer um Kilometer die Laufstrecke entlang zu treiben. Weiterzulaufen, wenn es sich anfühlte, als ob es nicht mehr ging. Schneller zu werden, wenn ich eigentlich stehen bleiben wollte. Kein kleines Kind sollte sich solche Sorgen machen müssen. Sorgen, daß sein Bruder oder seine Schwester sterben werden. Was mit seinen Eltern passieren würde, wenn das geschehen sollte. Kein Kind sollte sich den Kopf zerbrechen müssen darüber, wie es seinen Eltern helfen könnte, was es für seinen Bruder oder seine Schwester tun könnte, damit sie wieder gesund werden.

Und so tat ich, was ich tun mußte. Nachdem ich den halben Marathon hinter mich gebracht hatte. Unter  zwei Stunden, wie angestrebt. Meldete ich mich direkt für ein weiteres Rennen an. Dieses Mal für einen richtige Marathon. All das dafür, damit "Ihr Kind hatte einen Unfall" wirklich nur einen Kratzer oder aufgeschlagenes Knie bedeutet.








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